Kiew im Jahr 2000

Mein erstes Digitalfoto in Kiew wurde dieser schwarze Wolga (GAZ). Nur wenige Wochen zuvor hatte ich mir eine neue Canon-Kleinbild-Digitalkamera (für unglaubliche 2.198 DM) zugelegt. Offen gesagt wurden die wenigsten Fotos damit eine Offenbarung. Aber für das Internet und für meine persönlichen Erinnerungen halten diese Fotos allemal her.

Ebenfalls ein Wolga – lediglich ein Stück weit älter als zuvor. GAZ ist ein russischer Autobauer mit Sitz in Nischni Nowgorod. Eigentlich heißt der Autobauer \“Gorkowski Awtomobilny Sawod\“ (GAS) und wurde 1932 als Resultat des ersten Fünfjahrplans der Sowjetunion ins Leben gerufen. Heute gehört GAZ zum Imperium von Oleg Deripaska (zweitreichster Oligarch in Russland). Neben PKWs baut der Konzern in ganz Russland auch Busse, Lastwagen, Lieferwagen, Baumaschinen und schwere Motoren.

Der Trolleybus ist ein weit verbreitetes Verkehrssystem im Osten Europas. Die Busse besitzen einen elektrischen Antrieb und sind durch die Oberleitung natürlich spurgebunden. Dieses charmante Exemplar wurde praktisch nur noch vom Rost zusammengehalten. Im Bus fährt eine \“Babuschka\“ mit, die nicht nur das (für uns im Westen äußerst günstige) Fahrgeld einsammelt, sondern bei Bedarf (das passiert vor allem im Winter) auch den Abnehmer an die Oberleitung zurückführt, sofern der mal wieder abgesprungen ist. Inzwischen dürften diese mausgrauen Sowjetteile weitgehend aus dem Straßenbild von Kiew verschwunden sein. Oder nicht?

Wenn es in Kiew brennt wählt man am Telefon die Nummer \“01\“ um die Feuerwehr zu rufen (\“02\“ steht für die Polizei und \“03\“ für den medizinischen Notdienst). Doch was nutzt dieses praktische Wissen ohne fundamentale Kenntnisse der russischen Sprache? Englisch wird in Kiew sehr selten gesprochen. Die ältere Generation kennt ohnehin keine westliche Fremdsprache.

ZIL ist ein russischer LKW-Hersteller mit zentralen Sitz in Moskau. Das Unternehmen wurde bereits im Jahre 1916 und damit vor der Oktoberrevolution gegründet. Zeitweise hieß das Kombinat dann \“Stalin-Werk\“, bis es nach dem XX. Parteitag der KPdSU in „Sawod imeni Lichatschowa“ (zu Deutsch Lichatschow-Werk) umbenannt wurde. Die Produktion ist noch heute weitgehend im Staatsbesitz.

Der sowjetische Baustil nach dem Krieg. Damals wie heute wird das Gebäude als Büro- und Gewerbefläche genutzt. Jahrzehnte der Planwirtschaft und nun Marktwirtschaft. Unter anderem hat sich hier die Deutsche Post (DHL Paketdienst) eingerichtet. Kaum zwei Minuten (ich meine zu Fuß) von hier hatte ich meine erste eigene Wohnung in Kiew. Rund 70 qm für 150 US$ Miete im Monat. Mietvertrag per Handschlag. Das war der Preis im Jahr 2000. Heute würde man – insbesondere als Ausländer – für so eine Wohnung locker das Vierfache bezahlen, und in der unmittelbaren Nähe einer U-Bahn-Station das Sechsfache. Kiew ist teuer geworden.

Das Werbeplakat vom Foto zuvor rangezoomt und es offenbart sich eine nette Anti-Raucher-Kampagne. Das Plakat vermittelt eine klare Botschaft, wie ich finde. Ob das die Menschen vom Rauchen abbringt? Ich habe Zweifel, in Kiew wird auffallend viel geraucht. Ganz gleich ob Männer, Frauen, Jung oder Alt: Alle greifen sie viel zu gerne zum Glimmstängel. Zigaretten waren (sind eigentlich bis heute) im Osten vergleichsweise spottbillig. Am Stadtrand von Kiew hat der Tabak-Konzern „Reemtsma“ in ein nagelneues Zigarettenwerk investiert. Für die Tabakkonzerne ist der Osten Europas ganz sicher ein geschäftliches Eldorado. Die Diskussion über Rauchen und Gesundheit hält sich (noch) in engen Grenzen und Zigaretten kann man praktisch an jeder Ecke kaufen.

Die sowjetische Architektur wurde immer dadurch geprägt, möglichst schnell und möglichst kostengünstig Wohnraum zu schaffen. Klar, dass dabei Ästhetik und Wohnkomfort auf der Strecke blieben oder in den Hintergrund traten. Wohnraum blieb in der Sowjetunion ein knappes Gut. Das hat sich in Zeiten der Ukraine nicht wesentlich verändert. Am wenigsten in Kiew. Obwohl in der Stadt Kiew heutzutage gebaut wird, was das Zeug hält, haben die Wohnungspreise westliches Niveau erreicht. Im Gegensatz zu den (aus unserer Sicht) hässlichen Gebäuden, sind die Wohnungen oftmals liebevoll eingerichtet. Die Wohnungen sind heute wesentlich (durch staatliche Eigentumsübertragung in den 90er Jahren) im Besitz der „alt“ eingesessenen Bewohner. Oftmals das einzige verbliebene (sowjetische) Vermögen einer Familie.

Ein Plattenbau mit 15 Stockwerken mitten in Kiew. In der Ukraine (wie auch in Russland) wird das Erdgeschoss als erstes Stockwerk mitgezählt. Diese riesigen Wohnkomplexe mögen für uns im Westen „schrecklich“ wirken. Aber die Bewohner fühle sich hier wohl. Es gibt Aufzüge (sofern sie funktionieren) und praktische Müllschächte. Der Eingangsbereich wird militärisch streng von einer „Babuschka“ oder einen „Djeduschka“ überwacht, damit nicht jede fremde Person unkontrolliert durch das Haus stiefelt. Die Beauftragten nehmen ihre Aufgabe äußerst ernst. Als Fremder gibt es ohne Erklärung oder Diskussion kaum ein Durchkommen. Ich habe da so meine eigenen Erfahrungen.

Auch wenn in Kiew immer mehr Supermärkte entstehen, für weite Teile der Bevölkerung sind die Märkte Dreh- und Angelpunkt für den alltäglichen Einkauf. Schon alleine deshalb, weil das Angebot in den Supermärkten (zum Teil Importwaren) für die meisten Menschen zu teuer ist. Nach wie vor faszinieren mich die Märkte und Markthallen im Osten. Alles ist bunt und vielfältig. Die Menschen, das Treiben und nicht zuletzt natürlich das breite Warenangebot. Offen, unverfälscht, kommunikativ und nicht selten humorvoll. Das kann ein moderner Supermarkt nicht mehr bieten.

„Babuschkas“ bieten rund um den eigentlichen Markt ihre Ernten an. Viele der alten Leute stammen aus den Dörfern rund um Kiew. Kaum eine Familie in der weiten Ukraine, die nicht irgendwo ein Stück Scholle bewirtschaftet. Kartoffeln, Möhren, Kohl – angebaut wird, was der überaus fruchtbare Boden hergibt. Das meiste dient der eigenen Versorgung (für eine ganze Familie) und die Überschüsse werden angeboten um die schmale Rente aufzubessern. Für viele alte Frauen ist das eine Frage des Überlebens. Eines sollte zu denken geben: Hier handelt es sich um die Frauen, welche nach dem Krieg die glorreiche Sowjetunion aufgebaut haben. Die Trümmerfrauen Russlands.

Das Rentenniveau für die alten Menschen in der Ukraine lag damals kaum bei 100 Griwnja. Das waren im besten Fall 30 DM oder 35 DM. Zu viel um zu sterben aber zu wenig um zu leben. Inzwischen wurden die Rentenzahlungen in der Ukraine mehrfach angeglichen. Aber über die Jahre galoppierte auch die Inflation davon. So hat sich die Lage für die Rentner nur unwesentlich verbessert. Sie sind ganz klar die Verlierer der politischen Wende. Sie haben nicht nur ihren Wert der hart erarbeiteten Rente verloren, sondern oftmals auch ihr ganzes (bescheidenes) Vermögen. Sparbücher, in Rubel angelegt, wurden Anfang der 90er Jahre durch den Systemsturz und in Folge der Inflation schlagartig entwertet. Die Sehnsucht nach der guten alten Sowjetunion ist für diese Menschen unendlich groß.

Impressionen aus Kiew – November 2000 – Seite 2

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